Die Rückbesinnung auf sich selbst und seine Wurzeln erscheint in unserer gegenwärtigen und dynamischen, mannigfachen Transformationsprozessen unterworfenen Zeit auf den ersten Blick befremdlich.
Die Welt wächst zusammen; und nicht zuletzt aufgrund der rasanten Globalisierung befinden sich die Dinge, die den Lauf der Welt beeinflussen, in stetem Wandel.
Jeder von uns ist diesem Wandel unterworfen. Niemand vermag sich diesem zu entziehen. Das Leben gleicht einem komplexen Mosaik, welches durch viele kleine Steine erst zu seiner Pracht sowie individuellen Unverwechselbarkeit gelangt. Jeder Stein, und sei er noch so klein oder gar unscheinbar, ist in das große Ganze eingebunden – ja, ist ein integraler Bestandteil in diesem Kosmos.
Mit Blick auf die Freimaurerei, welche in ihrem Baugerüst ebenso einem facettenreichen Mosaik mit vielen unterschiedlich schimmernden Steinen gleicht, wird bei einer näheren Betrachtung ersichtlich, dass diese nicht im luftleeren Raum – also ohne jedweden Anreiz – entstanden ist, sondern allein aufgrund ihrer Komplexität eine tiefergehende Beschaffenheit aufweist. Jenes Baugerüst verweist auf ein mehrere Jahrhunderte zurückliegendes Erbe, dessen Traditionen und Elemente jene systemische Konsistenz formten und bis heute in den Mysterien der alten Welt wurzeln.
Von herausragender Bedeutung erscheint hierbei der römische Mithraskult – eine Mysterienreligion, ein Bund gleichgesinnter Männer mit bis ins 4. Jahrtausend v. Chr. zurückreichendem Ursprung. Bevor es jedoch losgeht, lasset uns noch einmal innehalten und uns vergewissern, was der Terminus Freimaurerei eigentlich impliziert.
Nach Br. Klaus Preiß (2006) ist „Freimaurerei […] eine geistig-seelische Lehre mit dem Ziel, die sittliche Vervollkommnung auf religiös-mystischer Basis, unter Verwendung von Allegorien und Symbolen sowie unter Einbeziehung humanitärer Gedanken der Aufklärung zu fördern.“
Also denn, begeben wir uns auf die Spurensuche nach einem wesentlichen und leider oftmals vergessenen Eckstein der modernen Freimaurerei.
Der Ursprung des Mithraskults
Der indoiranische Sonnengott Mithra, welcher bereits in den für Hinduismus (Veden, 4.–2. Jahrtausend v. Chr.) und Zoroastrismus (Avesta, ca. 1800 v. Chr.) wichtigen Schriften erwähnt wird, ist von seinem Ursprung her geographisch in Indien sowie Persien zu verorten. Beide Regionen, u. a. durch historische sowie enge kulturelle Überlappungen gekennzeichnet, weisen im Kontext der Verehrung des Mithra diverse Gemeinsamkeiten auf.
So handelte es sich hierbei um eine mächtige Gottheit mit dem Fokus auf das heilige Prinzip der gegenseitigen Vertragstreue zwischen den Menschen, deren oberste Instanz – verkörpert durch Mithra – über deren Einhaltung wachte.
Im Allgemeinen handelt es sich hierbei um einen friedfertigen und eher wohlwollenden Gott, dessen Impetus die Einhaltung der geschlossenen Verträge im Sinne der Vertrauensbildung von Freund durch Vertrag war.
Die Verpflichtung zur Treue bildet hierbei den zentralen Bezugspunkt im Rahmen der zwischenmenschlichen Interaktionen. Ein Kult im eigentlichen Sinne um jene hier beschriebene Gottheit konnte bzw. kann in diesem Kontext nicht nachgewiesen werden. Generell ist die diesbezügliche Quellenlage ohnehin dürftig, sodass auch vonseiten der Wissenschaft nicht mit vollkommener Sicherheit alle Aspekte ergründet werden können, sondern anhand der verfügbaren – und weiterhin zu entdeckenden – Funde lediglich spekuliert werden kann.
Vom Osten ins Römische Reich
Für uns stellt sich nun die Frage, wie die eigentlich im indoiranischen Raum verortete Gottheit des Mithra ins Imperium Romanum gelangte und in diesem Zusammenhang zu einer der erfolgreichsten Mysterienreligionen bzw. -bünde avancieren konnte.
In Bezug auf den aktuellen wissenschaftlichen Diskurs kann konstatiert werden, dass gegen Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. ein neuer Kult Eingang in die Gesellschaft fand: der römische Mithraskult. Ob dieser nun tatsächlich durch kilikische Piraten auf die Apenninhalbinsel oder im Zuge eines weitverzweigten Handelsnetzwerkes durch Reisende (Händler, Söldner u. a.) nach Rom gelangte, kann nicht eindeutig festgestellt werden – unabhängig von in Kleinasien bereits vorhandenen endogenen, zarathustrisch angehauchten Kulten um Mithra.
Fakt ist, dass Mithras auf eine römische Gesellschaft stieß, die auf der Suche nach orientalischen Weisheiten den Blick bis an die Ränder der Alten Welt richtete. Diese Gegebenheit kann durchaus als Erklärungsversuch für das Entstehen und die Verbreitung des römischen Mithraskults herangezogen werden.
Struktur und Symbolik des Mithraskults
Der sich verbreitende römische Mithraskult entwickelte sich in dieser Zeit zu einer Mysterienreligion – einem Bruderbund zwischen Gleichen bzw. Suchenden nach Licht und Erkenntnis. Als solcher fand er besonders unter Legionären schnell Verbreitung, die ihn in alle Winkel des damaligen Imperiums trugen.
Dass dieser neue und sich darüber hinaus in nahezu allen sozialen Schichten verbreitende Kult in der römischen Gesellschaft relativ schnell Fuß fassen konnte, ist nicht zuletzt jener Gesellschaftsstruktur geschuldet mit ihren Seilschaften und Abhängigkeitsverhältnissen. Jedoch hat der neue Kult nach Auffassung vieler Altertumswissenschaftler mit seinem geographischen sowie religiösen Ursprung nicht mehr viel zu tun, sondern muss in diesem Kontext als eine römische Neuschöpfung mit persischem Flair verstanden werden. Dennoch können Parallelen zwischen dem indoiranischen Mithra und dem römischen Mithras nicht gänzlich von der Hand gewiesen werden.
Kultstätten und Rituale
Die Kultstätten, auch Mithräen genannt, waren je nach geomorphologischer Beschaffenheit Grotten oder Höhlen, die ersteren nachempfunden waren. In der Mitte des Tempels befand sich ein schmaler Mittelgang hin zu einem Wandfresko oder Altar, seitlich zwei Podien für das zentrale Brudermahl. Die dargestellten Szenen auf dem Kultbild des Mithras enthielten verschiedene Darstellungen – zumeist die Stiertötung (Tauroktonie) – konnten aber variieren.
Der fensterlose, künstlich beleuchtete Raum verstärkte die Wirkung der Lichteffekte, wodurch die Rituale, insbesondere die Beförderung in einen der sieben Grade, zu einem besonderen Erlebnis wurden. Im Zentrum des Kultes stand die Sonne. Mithras als Sol Invictus Mithras, der unbesiegbare Sonnengott, fand Eingang in das römische Pantheon.
Gemeinschaft und Einweihung
Der Mithraskult war ein Bruderbund ausschließlich für Männer. Seine Exklusivität resultierte aus der kleinen Gemeinschaft und der Intimität der Heiligtümer. Die Nähe der Brüder zueinander und die Atmosphäre der Mithräen ermöglichten ein intensives Erleben von Gemeinschaft und Spiritualität. Besonders die Aufnahme eines Neophyten war ein zutiefst individuelles und spirituelles Erlebnis.
Aufstieg und Niedergang
Zwischen ca. 150 und 400 n. Chr. versammelten sich die Anhänger des römischen Mithraskults in nahezu allen Teilen des Imperium Romanum, um gemeinsam an ihrer sittlichen Vervollkommnung zu arbeiten und brüderlich die Rituale des Sol Invictus Mithras zu zelebrieren. Das Ende dieses Bundes besiegelte Kaiser Theodosius I. im Jahre 391 n. Chr. mit der Erhebung des Christentums zur Staatsreligion. Ab dem späten 4. Jahrhundert verschwand der Kult – bis er im Zeitalter der Renaissance wiederentdeckt wurde.
Parallelen zur Freimaurerei
Der römische Mithraskult hatte einen fulminanten Aufstieg innerhalb der römischen Gesellschaft und gelangte in nahezu alle Winkel des Reiches. Der Gedanke der Gleichheit und das gemeinsame Streben der Brüder nach sittlicher Vervollkommnung stellten eine wesentliche Konstante dieses Geheimbundes dar – miteinander vereint auf der Suche nach Licht und Erkenntnis. Auch heute in der modernen Freimaurerei ist dieses Ideal enthalten.
Nach Br. Klaus Preiß (2006) bestehen neun Übereinstimmungen zwischen Mithraskult und Freimaurerei:
- Das Vorhandensein von (sieben) Weihegraden
- Die Auslegung des Kultes als exklusiver Männerbund
- Die Geheimhaltung der Einweihungen
- Die siebenstufige Himmelsleiter im Kontext der astronomischen Betrachtung des Kultbilds des Sol Invictus Mithras
- Die sieben Stufen als Symbol der sieben Grade der Vervollkommnung
- Die Verwendung von Symbolen (z. B. Stier und Umfeld der Tauroktonie)
- Die Beherrschung der Gefühle und insbesondere der Leidenschaften
- Das Streben nach Vervollkommnung
- Das Vorhandensein kosmischer Elemente
Schlussbetrachtung
Vergegenwärtigen wir uns den eingangs zitierten Terminus der Freimaurerei noch einmal, so erkennen wir, dass die geistigen Väter der Freimaurerei durchaus Kenntnisse über den Mithraskult besaßen und dieses Wissen in die Entstehung der modernen Freimaurerei einfließen ließen. Auch heute noch ist die Berufung auf die Mysterienbünde der Vergangenheit eine wesentliche Essenz, wobei die Verbindungslinien zwischen dem römischen Mithraskult und der Freimaurerei auf den zweiten Blick evident erscheinen.
Diese mystische Tradition hat im Geiste der Humanität über die Jahrhunderte nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Sie bleibt eine Richtlinie moralischer und sittlicher Orientierung, wobei der Mensch stets im Mittelpunkt steht. Die Rückbesinnung auf sich selbst und seine Wurzeln erweist einem jeden Bruder somit einen großen Dienst bei der Arbeit am rauen Stein.
Literaturtipp
- Buck, Sebastian: Mithras: Geschichte einer Gottheit. Independently published, Amazon 2021.
- Gschlößl, Roland (Hg.): Mithras, Mysterien, Kult. Bayerische Archäologie, Heft 1/2023, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2023.
- Preiß, Klaus: Unbekanntere Bausteine der Freimaurerei: Stoa und Stoizismus, Mithraskult, Meister Eckhart, Reuchlin. Haag + Herchen Verlag, Hanau 2006.
